„Mit gutem Grund wird die Schönheit einer Schachpartie gewöhnlich nach deren Opfergehalt beurteilt.“

Rudolf Spielmann, RICHTIG OPFERN

Nach dem knappen und nach allen Maßstäben glücklichen Sieg vor vier Wochen gegen Aufsteiger Beelen empfingen wir nun also bei der Heimspielpremiere am zweiten Spieltag die Reserve des Südlohner Schachvereins, die zum Saisonauftakt in Ibbenbüren ebenfalls erfolgreich war. Die Vorgabe des Mannschaftsführers für diesen Vergleich lautete nicht nur zwei Punkte, Georg legte darüber hinaus auch Wert darauf, einen verdienten Erfolg beobachten zu können. Nun denn, darauf sollten wir noch einmal zurückkommen.

Während unsere Gäste in Bestbesetzung antreten konnten, blieb uns diese Möglichkeit durch die kurzfristige Absage von Hans, unserer Nummer eins, am Vortag verwehrt. Dennoch sollten wir durch unsere ausgeglichene Aufstellung an den hinteren Brettern Vorteile besitzen, so dass wir guten Mutes das Match angehen konnten.

Wie auch schon einen Monat zuvor war auf vielen Brettern von Anfang an eine Menge Action geboten, so dass erneut eine niedrige Remisquote zu erwarten war. Besonders schnell bahnte sich die Entscheidung ausgerechnet in meiner Partie an, nachdem ich in Beelen noch am längsten hatte kämpfen müssen. Mein Gegner und ich hatten bereits nach wenigen Zügen eine vermutlich in keinem Theoriebuch zu findende, aber höchst interessante Konstellation auf dem Brett. In eigentlich geschlossener Stellung erwies sich der lange Zeit in der Mitte befindliche weiße König schnell als Schwachpunkt. Eine weitere Ungenauigkeit führte dann nicht nur zum Bauernverlust, sondern auch zum Eindringen eines Läufers auf c3 sowie der Dame auf a2. In der Folgezeit waren sämtliche weiße Figuren an Verteidigungsaufgaben gebunden und nahezu unbeweglich. Die Position meines keinesfalls beneidenswerten Gegners aus Südlohn erinnerte nach gerade einmal zwölf Zügen schon fatal an Zugzwang: Ihm blieben lediglich sinnlose Königs- oder Bauernzüge, während ich meine Entwicklung in Ruhe beenden konnte.

Unterdessen meldete Waldemar an Brett acht bereits den ersten vollen Punkt. Er hatte sich schnell Raumvorteil erspielt, der schließlich zum Gewinn einer Figur führte.

Auch mein Gegner streckte kurz nach dem Konzert der Kirchenglocken um 18 Uhr die Waffen, so dass wir mit 2:0 in Front lagen. Was solch eine Führung tatsächlich wert ist, wissen wir ja spätestens seit dem Match in Beelen, als binnen weniger Minuten der Vorsprung verspielt und der sicher geglaubte Sieg in Gefahr geraten war.

Der Umstand, bereits sehr früh die eigene Partie beendet zu haben, erlaubte mir, die übrigen Bretter intensiver zu betrachten als sonst üblich. Das Geschehen dort gab Anlass zu verhaltenem Optimismus: Auf der einen Seite trugen Daniel und Stefan, jeweils mit den weißen Steinen spielend, ihre Angriffe am Königsflügel sehr konsequent vor und hatten bereits spürbaren Vorteil erlangt. Auf der anderen Seite musste man durchaus Sorge um den Ausgang der Partien von Georg, Günter und Konrad haben. Unserem Spitzenbrett gelang es nicht, seinen König mittels Rochade in Sicherheit zu bringen, was ihn auf Grund des gefesselten e-Bauern einen Bauern auf f5 kostete. Günter hatte in französischer Struktur den a-Bauern verloren, wodurch der Gegner einen Freibauern auf der a-Linie erhielt. Hier war also schnelles Handeln angesagt, da ein mögliches Endspiel wohl nicht zu halten sein würde. Und auch Konrad, der zunächst mit den schwarzen Steinen die Initiative übernommen hatte, verlor schließlich einen Bauern und drohte den ganzen Punkt abzugeben. Somit könnte vieles von Iljas Partie am dritten Brett abhängen, dessen Stellung die meiste Zeit dermaßen komplex war, dass ich sie am ehesten mit dem Begriff unklar beschreiben kann. Hier konnte also noch alles passieren, ein knapper Ausgang des Mannschaftskampfes deutete sich also an.

Für die nächste Entscheidung sorgte dann der glänzend aufgelegte Stefan, dessen Partie mich dazu bewogen hat, sozusagen als neue Kategorie die Rubrik „Highlight des Spieltags“ einzuführen. Klarer Sieger in der ersten Ausgabe also ist Stefan, der seinen Königsangriff mittels heterogener Rochaden einleitete, dann mit einem kraftvollen Bauernsturm fortsetzte und schließlich durch ein wunderbares Damenopfer krönte. Als das Matt unabwendbar war, gab sein Gegner auf, was uns nach gut drei Stunden Spielzeit eine 3:0-Führung bescherte. Noch immer war damit aber der Mannschaftssieg noch nicht endgültig gesichert, auch wenn an Brett sechs alles für einen Sieg von Neuzugang Daniel sprach.

Richtig kurios wurde das Match aber dann, als es auf die Vier-Stunden-Marke zuging und an einigen Brettern die Bedenkzeit knapp wurde. Günter hatte inzwischen einen zweiten Bauern geopfert, ohne dass er dafür zwingende Kompensation erhalten hätte. Nachdem sein Gegner seinen Vorteil kontinuierlich ausbauen konnte, überschritt Günter dann im 39. Zug die Zeit – zugegebenermaßen in eindeutig verlorener Stellung. Der Anschluss für Südlohn war geschafft, zwei weitere Punkte an den Brettern eins und sieben schienen in Reichweite. Dachten zumindest die Beobachter.

Georg hatte einen weiteren Bauern einzügig eingestellt und konnte eigentlich nur noch kühn von einem Patzer des Gegners träumen, als diesem - anscheinend im Gefühl des sicheren Sieges – plötzlich mehrere Ungenauigkeiten in Folge unterliefen. So versuchte Georg richtigerweise die Stellung zu verkomplizieren, woraufhin sein Gegner tatsächlich fehlgriff. Durch eine Kombination gelang es unserem Brett eins, einen Bauern zurückzuerobern, ein zweiter war scheinbar schutzlos verloren.  Kaum hatte Schwarz die Stellung allerdings ausgeglichen, gab er dem Gegner erneut Gelegenheit, die Partie zu seinen Gunsten zu entscheiden. Dieser jedoch übersah die unverhoffte zweite Chance, büßte auch seinen zweiten Mehrbauern ein und musste sich kurz darauf mit Remis begnügen. Noch einmal Glück gehabt, und einen wichtigen halben Punkt geklaut.

Noch erfolgreicher schaffte es Konrad, das Blatt zu wenden: Hatte doch in der ersten Runde bereits sein Gegner ein zweizügiges Matt übersehen und am Ende noch verloren, beging nun auch sein diesmaliger Kontrahent einen groben Patzer. Einzügig (!) stellte er zwei Bauern ein und musste so augenblicklich sämtliche Sieghoffnungen begraben, die bis dahin durchaus realistisch erschienen. Konrad behielt erneut einen kühlen Kopf und verblieb nach Tausch der letzten Schwerfiguren mit einem Mehrbauern und damit einem klar gewonnenen Endspiel. Unsere etatmäßige Nummer acht erweist sich derzeit wahrlich als Meister im Gewinnen objektiv verlorener Stellungen, weil er niemals aufgibt und immer seine Chance sucht. Respekt dafür an Konrad, dessen Lohn der entscheidende Punkt zum Sieg war; 4½:1½ führten wir nun also, danach hatte es noch eine halbe Stunde zuvor wahrlich nicht ausgesehen.

Daniel legte kurze Zeit später erwartungsgemäß sogar noch einen nach, so dass der Sieg in der Endabrechnung noch etwas deutlicher ausfallen sollte. Bereits sehr früh hatte er mit einem Bauernvorstoß bis nach f6 den schwarzfeldrigen Läufer des Gegners auf h8 für alle Zeit vom Spielgeschehen abschneiden können und die Weichen damit auf Sieg gestellt. Sein Gegenüber wehrte sich zwar noch lange Zeit nach Kräften, letztlich spielte er aber de facto mit einer Figur weniger und musste sich schließlich geschlagen geben.

Als letzte saßen folglich Ilja und sein Gegner noch im Spielsaal, die sich über die gesamte Spieldauer nichts schenkten – ausnahmsweise, ist man an diesem Tag versucht zu sagen. Ilja, der sich dem weißen Bauernsturm am Königsflügel ausgesetzt sah, hatte sich lange Zeit geschickt und erfolgreich verteidigt, ehe er jetzt, als die Zahl der Zuschauer um sein Brett herum rapide zunahm, doch noch einen Fehler beging und den Gästen aus Südlohn die Gelegenheit zur Ergebniskosmetik bot. Sein Gegner fand allerdings nach einer sehr schönen Anfangskombination in der Folgezeit nicht immer die besten Züge, und die Erschöpfung tat wohl ihr übriges. Nach beinahe sechs Stunden Spielzeit erklärte er, dass er keinen Weg mehr sehe, seine beiden verbundenen Freibauern gewinnbringend gegen die schwarze Mehrqualität in Szene zu setzen, woraufhin sich beide Spieler auf Remis einigten.

Damit war auf dem Spielberichtsbogen ein Endergebnis von 6:2 für Nienberge zu lesen, welches ohne Frage nach einem deutlichen Sieg klingt, in der Entstehung aber nur schwerlich zu erklären ist, wie man ehrlich zugeben muss. Unsere Gäste aus Südlohn haben insgesamt sehr gut gespielt, sich dann jedoch selbst um die Früchte ihrer Arbeit gebracht.

Den ersten Teil der von Georg formulierten Tagesziele – einen Mannschaftssieg – hätten wir also erfüllt; die Beantwortung der Frage, ob dieser verdient ausgefallen ist, fällt dabei deutlich schwerer, auch wenn diese Frage zweifellos nur von kurzfristigem Interesse ist. In der Tabelle stehen hinter Nienberge I 4:0 Mannschaftspunkte – so viele übrigens wie bei keinem anderen Team nach zwei Spieltagen. Wie diese vier Punkte zustande gekommen sind, ist in keiner Statistik zu finden, dennoch lohnt, wie ich denke, ein kurzer Blick auf die Umstände. Georg und Konrad standen beide klar auf Verlust und holten nur dank der freundlichen Südlohner Mithilfe 1½ Punkte aus diesen beiden Partien. Und auch Ilja hätte an einem schlechten Tag seine Partie durchaus verlieren können. Unter dem Strich bleibt als Fazit also festzuhalten, dass wir uns auch bei einer scheinbar beruhigenden Führung wie dem 2:0 gegen Beelen oder dem 3:0 gegen Südlohn unserer Sache nicht zu sicher sein dürfen und die Konzentration aufrecht erhalten müssen, schließlich werden die Gegner nicht jedes Mal Geschenke verteilen.

Allerdings kann man unseren Partien auf der anderen Seite ein enorm hohes Maß an Spannung, Kampfeswillen und auch an Unterhaltungswert wohl kaum absprechen, was Mannschaftskämpfe unter Beteiligung von Nienberge I zu einem echten Erlebnis macht. Und damit möchte ich enden, und betonen, dass wir, obwohl bei den Einzelnen beileibe noch nicht alles rund läuft zu Saisonbeginn, dennoch als Mannschaft funktionieren und auch in ausweglos erscheinenden Situationen noch kämpfen und ins Spiel zurückkommen.  

In diesem Sinne sollten wir jetzt unser Spiel nicht zu sehr kritisieren, sondern uns an unserem erfolgreichen Saisonauftakt und der damit verbundenen Tabellenführung erfreuen.

Dennis